Der erste nennenswerte Song, den ich schrieb, war Woody Guthrie gewidmet.
(Bob Dylan, Chronicles I, 2004, S. 57)
Woody Guthrie war Poet, Musiker, Sänger – kein begnadeter Sänger, kein herausragender Musiker, kein Dichter, der die Lyrik oder Prosa seiner Zeit revolutioniert hätte. Und dennoch sind sein Leben und Werk ein Meilenstein in der Pop-Kultur des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus.
Woodrow Wilson Guthrie wurde 1912 in Okemah, Oklahoma geboren. Kaum volljährig, zog er als Wanderarbeiter (Hobo) durch die
USA, um seine Familie ernähren zu können, die in Pampa (Texas) zurückblieb. Er arbeitete auf Plantagen und als Schildermaler
und sang und spielte in Kneipen und auf der Straße. Dabei beschränkte er sich aber nicht auf gängige Country- und
Hillbilly-Titel, die häufig nur traditionelle Themen wiederkäuten, sondern setzte die Alltagserfahrungen seiner Zuhörer
in den Jahren der Depression und schwerer landwirtschaftlicher Krisen in eigene Songs um. Als er dann im Jahr 1937 eine
eigene Radiosendung bei einem Regionalsender in Kalifornien erhielt, wurde er schnell sehr populär. 1940 begründete er
in New York mit anderen Musikern, u.a. Pete Seeger, die Almanac Singers, die auf Gewerkschaftsveranstaltungen und
Veranstaltungen der radikalen Linken auftraten. Ab 1943 diente er in der US-Armee und der Handelsmarine.
Nach dem Ende des Krieges kehrte Woody Guthrie nach New York – zu seiner mittlerweile zweiten Ehefrau, der Tänzerin
Marjorie Mazia und seinen Kindern aus dieser Ehe – zurück; in diesen Jahren entstanden viele seiner Kinderlieder.
Gegen Ende der 1940er Jahre zeigten sich immer häufiger die ersten Auswirkungen einer schweren und unheilbaren
Nervenkrankheit – Chorea Huntington. 1954 wurde Guthrie in einer Krankenhaus eingewiesen, wo bei ihm erstmals
diese Erkrankung festgestellt wurde. 13 weitere Jahre seines Lebens verbrachte er im Hospital. Er starb am 3. Oktober 1967
im Creedmoor State Hospital in Queens im Staat New York.
Woody war als Songschreiber ungeheuer kreativ. Er konnte Eindrücke fast unmittelbar in Songs umsetzen, die eingängig
waren und dennoch keine kurzlebigen Hits blieben. Während einer Werbekampagne für den Grand-Coulee-Staudamm im
US-Bundesstaat Washington schrieb er pro Tag einen Song; einer davon, Roll on, Columbia
ist heute die offizielle
Hymne dieses Staates. Er verfasste insgesamt ungefähr 3.000 Songtexte, zwei Bücher und eine Vielzahl von Artikeln,
Gedichten und Berichten. Aber seine poetische Kraft ist nicht rein quantitativ zu fassen. Seine Sprache und seine
Poesie trafen den Nerv seiner Zuhörer und Leser, weil es ihre Sprache, ihre Welt, ihre Schmerzen und ihre Hoffungen
waren, die sie in Woodys Texten und Liedern wiedererkannten und die er mit einem grandiosen kollektiven Selbstbewusstsein
ausfüllte:
When the sun comes shining and I was strolling
And the wheat fields waving and the dust clouds rolling
As the
fog was lifting a voice was chanting
This land was made for you and me
Woody Guthrie war ein Leftie
, ein Linker – in seinen Liedern wie in seinem gesellschaftlichen Engagement. Dabei
war seine politische Einstellung eher Ausdruck eines tief in seiner Persönlichkeit verwurzelten Gerechtigkeitssinns
und der Liebe zu seinen Mitmenschen als Ergebnis theoretischer Erwägungen. Viele seiner Songs sind wohl gerade
deswegen politisch, aber kaum einer ist plakativ oder im schlechten Sinn Agit-Prop. Die soziale Mission des Christentums,
Gewerkschaft, Solidarität, Antifaschismus und Antirassimus, all das nahm er als Botschaften auf und gab sie – versehen
mit seinen Erfahrungen und für jedermann verständlich – als Botschaft weiter.
Ohne Radio, ohne Schallplatten, ohne Massenorganisationen und Marketingkampagnen, für die er Songs schrieb und sang,
wäre Woody Guthrie nicht der Folk hero
geworden, der er ist. Er war populär, weil er in der Medienkultur seiner Zeit
erfolgreich war – als Radiosänger, als Songschreiber für eine Band, die von der Gewerkschaft gebucht wurde. Die
Bekanntheit seiner Werke nahm noch zu, als Anfang der 1950er Jahre die sehr populäte Gruppe The Weavers
– zu der
auch Guthries Weggefährte Pete Seeger gehörte – eine ganze Reihe von Woody-Guthrie-Songs im Programm hatte.
Poetische Kraft, unverkennbar progressives politisches Engagement und breite Popularität – diese Kombination ist
die Grundlage dafür, dass Woody Guthrie ein Vorbild für viele, sehr viele Popmusiker nach ihm geworden ist – in
erster Linie für diejenigen, die ihre Songs selbst schreiben. Über The Weavers und Ramblin' Jack Elliot spannt sich
eine Linie der Woody-Guthrie-Rezeption hin zum Folkrevival im New York der sechziger Jahre und zu Bob Dylan. Und sie
führt weiter zu John Lennon, zu Bruce Springsteen, Billy Bragg und den Indigo Girls – und Pink mit ihrem aktuellen
Song Dear Mr. President
sowie den Dropkick Murphys.
In Deutschland veröffentlichte der Berliner Musiker Hans-Eckardt Wenzel 2003 die mit dem Vierteljahrespreis der
deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnete CD Ticky Tock
mit bisland unveröffentlichten Guthrie-Songs, die er
übersetzt und zu denen er die Musik komponiert hatte. Woody Guthrie hat einfach gute Texte geschrieben, das ist
für mich das einzige Qualitätskriterium
, sagt Wenzel zu seinem Projekt. Er hatte eine besondere Art, die Welt zu
umkreisen. Darin ist er mir nahe, so wie Theodor Kramer oder Bertolt Brecht. Er hat seine Songs stets für andere
geschrieben, damit die etwas damit anfangen können. Nicht, um möglichst viele CDs zu verkaufen. Woody Guthrie hat
keine eitlen Texte geschrieben.